Die lupenreine Demokratie

Massenproteste in Moskau bei eisigen Temperaturen. Die Menschen fordern ein Russland ohne Putin. Während der Präsident Erklärungen bei Facebook posted, schaut die EU nur halbherzig auf russische Missstände.

Bild: Зураб Завахадзе / wikipedia.org

Die Temperaturen liegen knapp unter dem Gefrierpunkt. Es schneit leicht und die schwache Abendsonne verschwindet hinter den grauen Wolken. Auf dem Bolotnaja-Platz in der Hauptstadt Russlands haben sich mehr als 50.000 Menschen zum Protest gegen die angeblich manipulierten Parlamentswahlen versammelt. Hier, auf einer Insel des Flusses Moskwa, umzingelt von ebenso vielen Polizisten und Sicherheitskräften, skandieren die Menschen: “Wir sind viele! Putin ist ein Verbrecher!” Ob Patriot oder Kommunist, ob Rentner oder Student. Sie alle fordern neue, faire Wahlen und ein Russland ohne Putin. Szenen wie diese wiederholen sich dieser Tage fast alltäglich in Russland.

Anfang Dezember wurde das Parlament, die Duma, gewählt. Aus Sicht der Opposition stand der Gewinner schon vorher fest. Die Putin-nahe Partei “Geeintes Russland” erreichte die absolute Mehrheit. Wahlmanipulationen und eine einseitige Berichterstattung werden ihr vorgeworfen. Für die Europäische Union sind gerechte Wahlen eine Bedingung für wahre Demokratie. Umso erstaunlicher, dass sie sich aus dieser Angelegenheit heraushält. Im Gegensatz zum russischen Volk, das sich den Betrug diesmal nicht gefallen lässt.

Der Präsident verspricht Aufklärung – per Facebook

So deutlich haben die Russen schon seit zwanzig Jahren nicht mehr gezeigt, was sie nicht nur von den vorgeworfenen Wahlfälschungen, sondern auch von der Missachtung ihrer Freiheiten halten. Die Wut auf die Unterdrückung Andersdenkender, der Frust über das korrupte System, die Angst vor Repressalien und Verfolgung hatten die Menschen auf die Straßen getrieben. Seitens der Staatsgewalt blieb es dieses Mal still in der Hauptstadt.

Keine Schlagstock schwingenden Polizisten, keine eiskalten Wasserwerfer und kaum Festnahmen von Demonstranten. Man könnte annehmen, Putin wäre zur Einsicht gekommen, würde den Sorgen und Klagen des Volkes nun offener gegenüber stehen. Dimitri Medwedew, Staatspräsident Russlands, versprach eine Aufklärung der Wahlbetrugsvorwürfe – übermittelt per Facebook. Auch die Protestler, die in mehr als 60 Städten von St. Petersburg bis Wladiwostok auf die Straße gingen, organisierten sich über soziale Netzwerke.

Seit 1999 beansprucht Wladimir Putin – in der Zeit jeweils zweimal Chef des Kremls (Sitz des Staatspräsidenten) als auch der Duma (Parlamentssitz) – weitreichende Befugnisse. Über die Jahre baute er sich ein System auf, das ganz und gar auf seinen Machterhalt ausgerichtet ist. Die Gouverneure der russischen Regionen werden praktisch eingesetzt, Oppositionelle werden verfolgt und mundtot gemacht, Demonstrationsrechte wurden stark eingeschränkt. Die Massenmedien stehen monopolistisch unter Putins Aufsicht, Minderheiten werden nicht geschützt und das Justizwesen ist stark korrumpiert. Russland ist alles andere als die “lupenreine Demokratie”, die der ehemalige deutsche Bundeskanzler Gerhard Schröder seinerzeit zu erkennen glaubte.

Europa sieht weg

Putin hat Russland in seinem Griff. Auch nach den Protesten wird die Partei “Geeintes Russland” Gesetze ungehindert durchsetzen können. Viele Dinge festigen seinen Platz im russischen Staat: Seine Beliebtheit in der Bevölkerung (bedingt durch groß angelegte Imagekampagnen in den von ihn kontrollierten Medien), die Unterstützung durch die Wirtschaft, die eng mit der Staatsführung verflochten ist, und nicht zuletzt ein Europa, das über Menschenrechtsverletzungen genauso hinwegsieht, wie über Korruption und Vetternwirtschaft.

Als einflussreicher politischer Akteur und Wirtschaftsmacht in der Welt sucht Russland ganz bewusst die Partnerschaft mit der Europäischen Union, im Speziellen auch mit Deutschland. Dabei sollen gegenseitige wirtschaftliche Verflechtung Zweifler aus Europa in die Schranken weisen. Zum Beispiel bezieht Deutschland bereits heute über ein Drittel seiner Gasimporte aus Russland. Die im November eingeweihte Ostseepipeline und auch die geplante Nabucco-Pipeline werden die Abhängigkeit von Russland noch verstärken.

Ein Russland ohne Putin ist möglich

Dementsprechend sind die Reaktionen Europas insgesamt verhalten. Eine kurze Pressemitteilung der EU-Außenbeauftragten Ashton erklärt: “Die Wahlen waren technisch gut vorbereitet und durchgeführt. Nichtsdestotrotz sind die verfahrenstechnischen Verletzungen, wie das Fehlen medialer Objektivität, die fehlende Trennung von Partei und Regierung, sowie die Schikanen bei der unabhängigen Berichtserstattung eine ernste Angelegenheit.”  Kein erhobener Zeigefinger an Putin, keine unterstützenden Worte für die mutigen Demonstranten in Moskau, schon gar keine politischen Konsequenzen.

Die Europäische Union bleibt wie so oft blass, bekennt nicht Farbe. Zu wichtig sind ihr russisches Gas und ein entspanntes Verhältnis zum großen Nachbarn im Osten. Für Putin bedeutet das: “Weitermachen!”. Und gerade damit könnte er sich gewaltig täuschen. Schon jetzt sinkt Putins Anerkennung in der Bevölkerung. Buh-Konzerte bei Putin-Auftritten, waren lange Zeit undenkbar, gehören seit den letzten Wochen aber zur fast alltäglichen Realität. Auch die wirtschaftliche Stabilität – noch gesichert durch derzeit hohe Gaspreise – könnte sich als Trugschluss herausstellen. Dann wird auch das System Putin ins Wanken geraten, denn Russland ist auch ohne Putin möglich.

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